Phanom Rung - Zu Besuch bei Shiva

Phanom Rung - Zu Besuch bei Shiva

Plötzlich ist er da: ein weißer Lichtblitz am Ende des Gangs. Mit jeder Sekunde wächst das Licht in der Dunkelheit bis ein goldenes Leuchten die ganze Pforte ausfüllt. Jetzt wirkt der Gang wie ein Portal in eine andere Dimension. Vielleicht war genau das auch die Idee der Erbauer: eine Tür in den Himmel. Denn ich stehe vor dem Hauptheiligtum von Prasat Hin Phanom Rung – der Wohnstätte der Gottheit Shiva.

Es ist früh morgens an einem Tag Anfang April. Um das ungewöhnliche Naturschauspiel mit eigenen Augen zu bewundern bin ich sechs Stunden mit dem Fernbus aus Bangkok angereist. Und natürlich bin ich auch wegen der großen Feierlichkeiten da, die im Anschluss stattfinden werden. Jetzt stehe ich zum Sonnenaufgang vor dem gewaltigen Hauptturm der historischen Khmer-Anlage, im Süden der Provinz Buriram. Einst war dieser Ort sogar über eine Hauptstraße mit Angkor Wat verbunden. Die ist aber schon seit Jahrhunderten im Urwald verschwunden. Damals wie heute, steht vier Mal im Jahr die Sonne hier bei ihrem Auf- bzw. Untergang genau in der Flucht der 15 Torbögen, die den Haupttrakt des inneren Tempels bilden. Von Nah und Fern strömen dann die Menschen hierher, denn es heißt wer das Schauspiel erlebe, der sei für immer gesegnet.

Trotz des mäßigen Gedrängels so früh am Morgen genieße ich den Moment in vollen Zügen: Blumen- und Laubmotive schmücken die Pilaster, Giebel und Türstürze der Jahrhunderte alten Sandsteinbauten. Aus den Scheinfenstern und von den Dachbühnen blicken dutzende Figuren von Einsiedlern und Himmelswächtern hinab auf den Vorplatz. Im Zwielicht des Morgengrauens und dem immer heller werdenden Leuchten der Sonne, sehen die Silhouetten fast lebendig aus. Und über dem Hauptportal des Tempelturms prangt Hausherr Shiva mit einem Lächeln.

Auf Khmer bedeutet vnam rung ‚breiter Berg’. Es ist eine Anspielung auf den Berg Kailash auf dem Shiva in tiefster Meditation verharrt. Die Tempelanlage selbst steht auf einem erloschenen Vulkan in einigen hundert Metern Höhe. Als die Khmer diesen Bau vollzogen, erstreckte sich ihr Reich über weite Teile des modernen Thailand und reichte tief in die nördlichen und westlichen Regionen des Landes hinein. Bis heute sind Ruinen der Khmer überall in Thailand zu finden. Die wichtigsten Stätten befinden sich in den Grenzprovinzen zu Kambodscha. Buriram hat die schönste und bekannteste von ihnen: Phanom Rung. Wie viele Stätten aus der Khmer-Ära, wurde auch diese aus einem nahezu zerstörten Zustand wiederhergestellt. Viele der Statuen und Schnitzereien waren zerfallen oder gestohlen worden. Zahlreiche Gebäude waren eingestürzt oder davon bedroht. Die thailändische Behörde für schöne Künste baute die Stätte ab Anfang der 1970er sorgfältig wieder auf und restaurierte sie.

An den höchsten Punkt des Tempels, der inneren Galerie wo ich jetzt stehe, gelangte ich über einen beeindruckenden Treppenaufgang und den großen Paradeweg. Die Ost-West ausgerichtete Achse ist umgeben von Urwald und ich werde das Gefühl nie wirklich los, auf einer archäologischen Expedition zu sein. „Nagabrücken“ verbinden einzelne Terrassen auf dem Gang. Die Statuen der mehrköpfigen Schlangengottheiten auf den Brückenpfeilern wirken etwas bedrohlich. Sie bewachen seit mehr als 800 Jahren den Aufgang zum Hauptheiligtum.

Inzwischen ist es schon richtig hell geworden und unter mir liegen die Hänge des Vulkans, ein weites Ackerland und in der Ferne die Grenze zu Kambodscha. Ich lasse meinen Blick auch über die gesamte Anlage schweifen und stelle mir vor, wie Generationen von Khmerherrschern und ihr Hofstaat hier zusammenkamen, um Rituale zu feiern. Bunt und prunkvoll geschmückte Menschen ziehen in einer langen Prozession und mit Musik begleitet den langen Gang entlang und bieten am Heiligtum ihre Opfergaben. Glücklicherweise kann man so ein Ereignis auch heute noch erleben: Das Naturschauspiel bei Sonnenaufgang ist nur ein Highlight von Phanom Rung. Denn zeitgleich findet im April auch das jährliche Phanom Rung Festival statt. Dann führen hunderte Nachfahren der alten Khmer hier historische Brahmanenzeremonien und traditionelle Tänze auf. Und abends taucht eine moderne Musik- und Lichtshow die gesamte Anlage in eine farbenfrohe Party. Das obligatorische Feuerwerk zum Abschluss darf natürlich nicht fehlen. Ich bin schon sehr gespannt. Eins steht fest: die Reise hierher hat sich auch jetzt schon ganz bestimmt gelohnt!

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